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Das Phänomen: Tokio Hotel international

Ok. Ich hab es versucht. Wirklich. Aber es ist aussichtslos. Was als lokal auf Magdeburg begrenztes Phänomen begann, erobert mittlerweile die europäischen Bühnen: Frankreich (Paris, Nancy), Russland (Moskau), Ungarn (Budapest), die Tschechische Republik (Prag, Ostrava), Polen (Warschau), Österreich (Wien), die Slowakei (Bratislava). Die vier Jungs – spätestens seit 2005 bekannt unter dem Namen Tokio Hotel – zu ignorieren, scheint somit schlicht und einfach nicht mehr möglich. Es heißt also, sich mit dem Phänomen Tokio Hotel einmal genauer auseinanderzusetzen; die Geschichte der Band wie die Mechanismen hinter ihrem Erfolg zu durchleuchten. Ähnliches hat vor anderthalb Jahren schon einmal der popkulturjunkie Jens Schröder in seinem Blog getan. Er beschied der Band in seinen abschließenden Worten jedoch keine  allzu lange Halbwertszeit:

„Und dann kommt noch eine zweite Single, ein Album und in einem halben Jahr sind die bedauernswerten Jungs wieder vergessen und die kleinen Fangirls haben neue Opfer.“

Der „Erfolg“ der zweiten Single („Schrei“) schien ihm recht zu geben. Sie erreichte nur Platz 5 in den deutschen Charts. Der popkulturjunkie dazu sarkastisch:

Waaaas? “schrei” von Tokio Hotel ist nur auf Platz 5 der deutschen Single-Charts eingesteigen? Platz 5? Muss das Taschengeld für Weihnachtsgeschenke gespart werden? Oder neigt sich die “Karriere” schon wieder dem Ende?

Die folgenden drei Singles erreichten wieder Platz 1. Und das nicht nur in Deutschland. Die Jungs sind nicht weg vom Fenster, sie haben ihren Erfolg auf die internationale Bühne ausgeweitet. Und sie haben abgeräumt: World Music AwardBambi, Comet, Eins Live Krone, Echo, Bravo Otto, Goldene Stimmgabel.  Zeit für eine neue Auseinandersetzung.

Beginnen wir von vorne. Der Mythos will es so: Die eineiigen Zwillinge (ja – ich wollte es auch erst nicht glauben) Bill und Tom Kaulitz (*1. September 1989), damals noch wohnhaft in Loitsche, einer 672 Einwohner starken Gemeinde nördlich von Magdeburg, treffen bei einem Auftritt im Jahre 2001 auf Gustav Schäfer (*8. September 1988) und Georg Listing (*31. März 1987). Dem kurzen PR-Text auf der deutschen Version der offiziellen Homepage (zu finden unter Biografie) gemäß, kommt es bereits kurze Zeit später zur Gründung der Band Tokio Hotel – die meisten anderen Quellen, u. a. wikipedia und das fanlexikon, sprechen zwar ebenfalls von der Gründung der Band im Jahre 2001, damals jedoch noch unter dem Namen Devilish. Schon der popkulturjunkie hatte vermutet, dass das Produkt seinen Namen durch das Management erhalten hat, in einem Spiegel Artikel  aus dem Februar 2006 wird dies bestätigt: Der spätere Name Tokio Hotel ist natürlich keine Erfindung der vier Jungs, sondern im Zuge der späteren Zusammenarbeit mit Universal „beim Brainstorming entstanden“.

Der Bandgründung folgten bereits nach einem halben Jahr einige lokale Konzerte „in vielen Clubs im Raum Magdeburg“. Auch wenn die Biografie auf der offiziellen Homepage der Jungs unterschwellig an dem Mythos strickt: Die lokalen Auftritte hätten niemals ausgereicht, die Aufmerksamkeit der Musikindustrie auf sich zu ziehen. Letzteres ist der Teilnahme Bills an der ersten Staffel des von Sat.1 produzierten Star Search zuzuschreiben: Im  Jahre 2003 kommt Bill in der Kategorie Music Act von 10 bis 15 Jahren  mit seiner Coverversion des Weather Girls Hits It’s raining men bis ins Achtelfinale. Gesang und Englisch ausbaufähig, aber eine für einen knapp 14-jährigen fulminante Bühnenpräsenz: Genug um das Interesse von Peter Hoffmann, der als Produzent für die Kinder-Kategorie von Star Search zuständig war, zu wecken. Noch im selben Jahr „entdeckt“ Hofmann die gesamte Band im Gröninger Bad, der Gesellschaft zur Förderung junger Musiker e.V in Magdeburg. Hoffmann im Juli/August 2005 im Stadtmagazin Stadtlichter:

„Im Moment haben wir eine Schülerband aus Magdeburg mit dem Namen „Tokio Hotel“. Im August veröffentlichen wir und wenn ich die Zeichen der Zeit richtig verstehe, neben meinem eigenen Bauch, wird das ein richtig großer Erfolg“

Zunächst wird die junge Band von Sony BMG unter Vertrag genommen. Kurz vor Veröffentlichung der ersten Single kündigt Sony jedoch den Vertrag: Man hat kalte Füße bekommen. Der Spiegel im Februar 2006:

„Sony BMG griff […] ungewöhnlich tief in die Taschen, um sich die völlig unbekannte Nachwuchsband zu sichern: 150.000 Euro Vorschuss nach Vertragsunterzeichnung und noch einmal rund 300.000 Euro garantierte Marketingaufwendungen, um die Platte zu bewerben. Ein halbes Jahr später, als die Platte fast fertig war und die Veröffentlichung anstand, wurde Sony BMG dieser finanzielle Wagemut plötzlich selbst zu heiß: Der verantwortliche Manager feuerte die Band.“

Dumm für den Manager: Sony BMG verliert Millioneneinahmen – und der Mann seinen Posten. Im Frühjahr 2005 landet Tokio Hotel bei der Universal Music Group. Tom Bohne, Managing Director Universal Music Domestic, erkennt das Marktpotential und nutzt die Chance. Er entscheidet sich >>für „den ganz breiten Aufschlag, und zwar sofort“: Im Mai die Vertragsunterzeichnung, im August die Single, im September das Album, im Anschluss die Tour und rundherum ein mehrere hundert-tausend Euro schweres Trommelfeuer aus Marketing und Promotion.<< Die große Eile, u. a. begründet durch die Angst die erkannte Marktlücke zu verpassen, wird ermöglicht durch die schon lange geleistete musikalische Vorarbeit: Hoffmann hatte zwischen 2003 und 2005 mit David Jost, Dave Roth und Pat Benzner gleich drei weitere Produzenten verpflichtet, um möglichst schnell aus einer talentierten Schüler-Combo eine Profi-Band zu machen. Eineinhalb Jahre bekamen die vier Teenager Unterricht im Singen, Song-schreiben und Instrumentespielen. Am Ende liefern sie 15 Songs bei der Plattenfirma ab und Bohne entscheidet: Die Debütsingle, das wird Durch den Monsun; die poppigste Nummer, die sich am besten und am breitesten vermarkten lässt.

Und vermarktet wird sie: Bereits einige Wochen vor dem Verkaufsstart wird das Video zum Song im Fernsehen ausgestrahlt; sechs Wochen vor der Veröffentlichung sitzt >>der Chefredakteur der „Bravo“ im Büro von Universal-Chef Briegmann, hört[…] „Durch den Monsun“ und [lässt] sich erklären, warum Tokio Hotel […] das nächste große Ding sei.<< Der Herr Chefredakteur ist schnell zu überzeugen. Die Bravo leidet bereits seit einiger Zeit an einem Themenmangel – und infolgedessen an einem teuren und bedrohlichen Auflagenschwund. „Reichlich bunte Geschichten“ kann sie gut gebrauchen. Man einigt sich also mit Universal und hat es bisher nicht bereut: „25 Titelgeschichten später hatte die „Bravo“ ihre Auflage um 22 Prozent gesteigert. Allein ein Tokio-Hotel-Sonder-heft zur Albumveröffentlichung im September [2005] wurde 350.000-mal verkauft.“ Natürlich will man sich bei Universal aber nicht allein auf die Bravo verlassen. Ob nun im Printbereich (Viva BamS – der Jugendteil der Bild am Sonntag), oder im TV (Viva, RTL II, Super RTL) – Werbung für Tokio Hotel läuft durch all die Kanäle, welche insbe-sondere Kinder als ihre Zielgruppe ansehen.

Und der Aufwand lohnt sich: Die Debütsingle erscheint am 15. August und schießt innerhalb von fünf Tagen von null auf eins in den deutschen Charts; knapp eine Woche später erreicht sie dieselbe Platzierung in den österreichischen Charts. Von nun an sind die vier Jungs nicht mehr zu bremsen. Ende September erscheint das Debütalbum Schrei – und steigt in beiden Ländern an die Spitze der Charts. Mittlerweile (Stand Januar 2007) hat es sich über 1,5 Millionen Mal verkauft, davon 50.000 Exemplare allein in Frankreich – einem Land, dessen Bürger nun nicht gerade für ihre Fremdsprachenkenntnisse berühmt sind. In Frankreich veröffentlicht im Herbst 2006 erreicht es dort innerhalb der ersten Woche Platz 19: „Damit ist Tokio Hotel die erste deutsche Band, der mit einem Debüt-Album der Direkteinstieg in die französischen Top20 gelang“ (wikipedia.de). Am 13. Februar 2007 bekommen die Mitglieder der Band in Frankreich dafür die Goldene Schallplatte überreicht. „Zimmer 483“ – ihr neues Album – steigt auf Platz 2 in den französischen Charts ein und wird innerhalb der ersten Woche vergoldet. Der Erfolg in Deutschland (knapp drei Millionen verkaufte CDs und DVDs) wie im europäischen Ausland (weitere Chartplatzierungen finden sich hier) hat beflügelt: Am 28. Mai dieses Jahres erscheint eine englischsprachige CD beim erfolgreichen Label Interscope – gedacht für den englischen und US-amerikanischen Markt, bei dem man sich anscheinend doch nicht auf die deutschsprachigen Texte der Band verlassen will. Ist das Album ein Erfolg, folgt noch im Herbst diesen Jahres eine Tour durch die USA.

Apropos international: Auf Wikipedia finden sich zu Tokio Hotel 26 Artikel  in ebenso-vielen Sprachen. Neben türkisch, schwedisch, dänisch, spanisch, italienisch, portugie-sisch usw., lässt sich selbst ein katalanischer Artikel finden; nicht zu vergessen einige außereuropäische Sprachen, für die der Standardzeichensatz nicht mehr auszureichen scheint. Und die offizielle Homepage der vier Jungs zieht nach: Mittlerweile findet sich neben der deutschen auch eine englische, sowie eine französische Version.

Was sagt uns das? Die Band ist ein unglaublicher Erfolg – vor allem ein kommerzieller, welcher ohne das äußerst effektive Management und Marketing unmöglich gewesen wäre. Nicht ohne Stolz wird dies auf der englischen Version der offiziellen Homepage wie folgt angedeutet:

„the group launched itself onto the clubs & bars of Magdeburg, then booked time in a small budget studio to put the live set to tape. By the end of that session, however, it was obvious to all parties that lack of time, money & experience had taken its toll, leaving the sonics and the songs a little frayed around the edges.“

Für den kommerziellen Erfolg der Truppe zeichnet sich bei Universal unter anderem Jörg Koshorst (Artist & Repertoire) verantwortlich. Koshorst (* am 18. September 1978 in Leverkusen) ist seit September 2004 A&R Manager Pop/Mainstream bei der Domestic Division von Universal Music. Die Aufgabe der Domestic Division besteht vor allem darin „[v]ielversprechende nationale und zumeist deutschsprachige Künstler zu entdecken, aufzubauen und zu etablieren“. Die verschiedenen Aufgaben eines A&R werden u. a. auf musikwirtschaft.com beschrieben. Koshorst, welcher sich aufgrund seines Engagements für Tokio Hotel momentan auf Platz 20 der wöchentlich von hitquarters.com präsentierten World A&R Charts wiederfindet (2005: Platz 62 / 2006: Platz 15), begann nach einem Praktikum bei BMG Ariola in München im September 2000 ein European Business Studium in Berlin, welches er 2004 erfolgreich als Diplom-Betriebskaufmann abschloss. Um sein Studium zu finanzieren arbeitete er ab November 2000 als Product Manager bei der BMG Berlin Musik; im August 2002 fing er als A&R und Product Manager für das Unternehmen Maxi Media (Jürgen Hohmann) in Köln an.                                    

… to be continued….                                                                                                          

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